„The Artist“ von Michel Hazanavicius

1927 in Hollywood: George Valentin (Jean Dujardin) ist ein umjubelter Hollywoodstar und Schwarm der Frauen. Er sieht gut aus und hat Charme, doch der Ruhm hat auch seine Eitelkeit geweckt, gerne düpiert er seine Schauspielkolleginnen oder den Regisseur. Eines Tages trifft er per Zufall auf Peppy Miller (Bérénice Bejo). Sie ist zwar wie so viele andere Frauen eine große Verehrerin des Stars, doch mit ihrer kecken, natürlichen Art weckt sie Valentins Interesse. Aber bei Valentin gilt: aus den Augen, aus dem Sinn, und so sehen sich die beiden erst einige Zeit später zufällig wieder. Peppy hat es mit ihrer Beharrlichkeit geschafft, als Statistin für den neuen Film von Valentin zu arbeiten. In einer Tanzszene mit Valentin verdreht sie dem Star so sehr den Kopf, dass etliche Takes schiefgehen und Valentin die Nerven seiner Crew mal wieder überstrapaziert. Wieder einige Zeit später: Inzwischen werden die ersten Tonfilme gedreht, und eine neue Riege junger Schauspieltalente erobert Hollywood mit ihrer frischen Art. Valentins Stern beginnt langsam zu sinken, doch der verwöhnte Star will die Entwicklungen nicht wahrhaben. Er hält sowohl an seinem Charakter des klassischen Abenteurers und Liebhabers als auch am Stummfilm fest. Als ihn das Studiosystem fallen lässt, versucht er, seine Filme selbst zu finanzieren. Auch damit scheitert er. Während Valentins Karriere unaufhaltbar bergab geht, wird Peppy Miller als neuer Frauentyp gefeiert – im Tonfilm.

Zeit des Umbruchs
1927: Das monumentale Science Fiction-Epos „Metropolis“ feiert in Deutschland seine Premiere. Der Slapstick-Star Buster Keaton veröffentlicht seine Meisterwerke „Der General“ und „College“. Abel Gance zeigt sein vierstündiges Historiendrama „Napoleon“. Douglas Fairbanks dreht auf der Höhe seiner Laufbahn den Abenteuerfilm „Der Gaucho“. Es ist ein gutes Jahr für die Kinobranche. Doch ein Jahr zuvor starb Douglas Fairbanks‘ größter Konkurrent Rudolph Valentino. Ein frühes Opfer des Starkults. Valentino erlebte die Ära des Tonfilms nicht mehr. Sein Scheitern ist anders zu erklären. Doch gerade die Umstellung auf den Tonfilm forderte in Hollywood viele Karrieren. Douglas Fairbanks beendete nach mehreren Misserfolgen halb freiwillig 1934 seine Laufbahn. Er hatte noch versucht, mit selbst produzierten Filmen erfolgreich zu sein. Es gelang ihm ebenso wenig wie George Valentin in „The Artist“. Auch Charlie Chaplin, der erste und wohl größte Stummfilmstar, hatte seine Mühe mit dem Umbruch. Doch er ging das Thema offensiver an: Zwar drehte er mit „Moderne Zeiten“ 1936 noch einen Stummfilm. Doch die Tonspur war angefüllt mit den orchestralen Geräuschen der Industrialisierung. Die einzige verbale Äußerung – der Protagonist will ein Lied singen, ihm ist aber der Text entfallen – ist Kauderwelsch. Und noch über „Der große Diktator“ von 1940 freut sich Chaplin: „In einem Hitler-Film konnte ich Burleske und Pantomime miteinander verbinden“. Sein stilisierter Tramp konnte im Schatten von Hitlers Kauderwelsch noch einmal still bleiben.

So raffiniert kann sich George Valentin nicht in die neue Zeitrechnung hinüberretten. Er ist ein Opfer der modernen Zeiten. Sein Fall ist unaufhaltsam, seine Unzulänglichkeiten auch jenseits der Leinwand werden unübersehbar. So wie der Leinwandheld aus Woody Allens „The Purple Rose of Cairo“ in der wirklichen Welt kaum überleben kann, so wenig ist Valentin den neuen Ansprüchen der Filmindustrie gewachsen.

Filmisches Füllhorn
Regisseur Michel Hazanavicius, der bislang nur mit seinen beiden Agentenparodien „OSS 117“ aufgefallen ist, beweist in Umbruchszeiten von CGI- und 3D-Spektakeln Mut, einen Stummfilm in Schwarzweiß zu drehen. Allerdings nutzt er die selbstgewählte Beschränkung meisterlich. Zum einen ist ein Stummfilm zwar stumm, aber nicht still. Das heißt, die Möglichkeiten der Tonspur werden im Rahmen des Konzepts voll ausgeschöpft. Zum anderen bietet sein Film nicht nur die Möglichkeit, eine ganze filmische Epoche wieder aufleben zu lassen – und das mit den heutigen technischen Mitteln. Er kann auch reichhaltig auf die filmhistorischen Erfahrungen seiner Zuschauer aufbauen, Klischees erfüllen, umspielen oder konterkarieren. Natürlich ist „The Artist“ ein Leckerbissen für Cineasten. Regisseur Michel Hazanavicius hat seinen Film vollgestopft mit filmischen Einfällen – gleichermaßen visuellen wie akustischen – und entfaltet ein reichhaltiges, selbstreferentielles Spiel mit Film und Filmgeschichte. Da verwundert es kaum, dass er gerade drei Golden Globes einheimsen konnte, und auch für die Oscar-Verleihung hat der Film gute Chancen. Doch „The Artist“ weist auch darüber hinaus und liefert ein ganz aktuelles Statement. Denn Verlierer des Fortschritts gibt es in einer sich immer schneller drehenden Welt mehr denn je. Das erwischt Hollywoodstars ebenso wie Handwerker. Aber der mediale Hype und der anschließende Absturz von Stars vollzog sich selten so schnell wie in unserer Zeit. Hoffen wir, dass diesem Film eine längere Aufmerksamkeitsspanne gegönnt wird als vielem anderen.

(Bundesstart: 26.1.2012)