„Shame“ von Steve McQueen

Mit dem Begriff der Promiskuität ist Brandons (Michael Fassbender) Leben ausreichend charakterisiert. Das macht Regisseur Steve McQueen bereits in den ersten Filmminuten mit einer Montage deutlich: Wir sehen die immer gleichen Rituale des morgendlichen Aufstehens, nur die Frau ist stets eine andere. Was anfänglich wie das Leben eines coolen Womanizers aussieht, entfaltet schnell seine zwanghafte Ausprägung. Brandons Schränke sind gefüllt mit Pornos, seinen Laptop benutzt er vor allem für Pornoseiten. Sogar sein Firmencomputer ist davon verseucht. Eines Tages steht der PC nicht mehr an seinem Platz, weil Techniker das Gerät untersuchen. Brandon fürchtet, dass seine Sucht entdeckt wird – denn er schämt sich dafür. Als sich seine Schwester, die er lange nicht gesehen hat, bei ihm einnistet, bringt das sein durchorganisiertes Doppelleben komplett durcheinander.

„Shame“ ist kein moralischer Appell. Der Künstler Steve McQueen, der mit seinem Nordirland-Drama „Hunger“ – ebenfalls mit Michael Fassbender in der Hauptrolle – zum Film gewechselt ist, hält allenfalls ein Zeitphänomen fest. „Access to Excess“ nennt Steve McQueen den Zustand, dass wir jederzeit alles haben können – und so viel wir wollen. Pornografie im Internet ist davon nur ein Teil, aber er zeigt am deutlichsten die rasante Entwicklung: Vor wenigen Jahren noch war die Beschaffung von Pornografie mit unterschiedlichsten Hürden verbunden – räumliche, juristische. Jetzt ist sie mittels Internet immer und für jeden zu haben. Die Schleusen haben sich geöffnet, und das verändert die Menschen. Es ist kein Zufall, dass „Shame“ in New York, der „Stadt, die niemals schläft“, angesiedelt ist. Brandon passt mit seinem Leben perfekt hierher: Er sieht gut aus, ist charmant, hat Stil und Erfolg, und nachts schläft er nicht viel. Doch sein Leben bleibt weitgehend anonym. Statt sich mit Freunden zu treffen, surft er lieber Pornos, chattet oder holt sich eine Prostituierte. Und wenn er doch mal ausgeht, dann macht er all das einfach danach.

Steve McQueen zeichnet mit Brandon keinen zweiten American Psycho. Auch wenn es Parallelen zu der Figur aus Bret Easton Ellis‘ Roman und der Verfilmung mit Christian Bale gibt – Brandon ist kein Psychopath. Im Gegenteil: Er ist nicht gewalttätig, sondern ein netter Typ. Allein – sein Herz ist erstarrt. Wie Steve McQueen und Michael Fassbender diesen Gegensatz von perfekter Oberfläche und defekter Psyche ausbalancieren, ist beeindruckend. Zwischen Eleganz und Kälte, Sehnsucht und Sucht entfalten sie einen Charakter, dem man zunehmend sein Mitgefühl entgegenbringt, und der doch vor allem ein Stellvertreter für die Entwicklung unserer westlichen Gesellschaft ist. Mit Carrey Mulligan („Drive“) als emotionales Gegenstück zu ihrem Bruder Brandon, einer klugen Musikauswahl und einer visuellen Klarheit haben die beiden einen würdigen und dennoch ganz unterschiedlichen Nachfolger zu „Hunger“ realisiert.

(Bundesstart: 1.3.2012)