Leidenschaft ohne Reue:
„Wie ich versuchte, ein guter Mensch
zu sein“ von Ulli Lust

Ulli Lust hat mit ihrem autobiografischen Graphic Novel-Debüt „Heute ist der letzte Tag vom Rest meines Lebens“ ihre Meisterschaft im visuellen Erzählen bezeugt und mit ihrer nicht minder gelungenen Adaption von Marcel Beyers Roman „Flughunde“ bewiesen, dass sie nicht nur aus ihrem eigenen Leben schöpfen kann. Insofern kann sie sich mit ihrem neuen Werk „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ wieder in aller Ausführlichkeit einer Fortsetzung ihres Debüts widmen.

In ihrem Erstling erzählte die Autorin, wie sie als noch nicht volljähriger Punk mit einer Freundin nach Italien trampt und auf dieser Reise allerhand Übles Zeug erlebt, das ihr Leben nachhaltig verändert – nicht nur, weil sie am Ende der Reise schwanger ist. Die schwangere, 17-jährige Ulli aus ihrem Erstling ist in „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ nun 23 Jahre alt, ihr bei Ullis Eltern lebender Sohn ist fünf Jahre alt. Zwischen Geldnot und dem Wunsch künstlerisch zu arbeiten hangelt sie sich in Wien orientierungslos durch das Leben. Mit ihren Mappen wird sie an den Kunsthochschulen abgelehnt, etwas Anderes als zeichnen will sie aber nicht machen. Vor allem ist sie in dieser Zeit aber hin und her gerissen zwischen einer platonischen Liebe zu dem älteren Schauspieler Georg und dem vor allem körperlichen Verhältnis zu dem leidenschaftlichen Afrikaner Kimata. Die Protagonistin droht sich zwischen ihren eigenen Bedürfnissen, den Erwartungen ihrer Liebhaber und dem Kulturclash mit Kimata zu verlieren. Zwar scheinen sich die drei Beteiligten halbwegs einig zu sein in ihrer unüblichen Konstellation. Doch gegenüber Georg ist Ulli nicht ganz ehrlich, und Kimata wird zunehmend besitzergreifend – und auch gewalttätig. Ulli Lust erzählt auch jetzt wieder ohne Zensur schonungslos von ihrem Lebensweg mit allen Irrwegen. Ihre Qualitäten als weitgehend egoistische Wochenendmutter stellt sie ebenso in Frage wie ihre Rolle in der Dreierbeziehung. Aber die heute erzählende Ulli Lust kann ihre Protagonistin auch annehmen, zeigt Verständnis für ihre Lage und legt auch die Schwächen ihrer Umwelt dar. Für ihre Lust am Leben und ihre Lust an der Lust – der Comic ist durchzogen von expliziten Sexszenen zwischen ihr und Kimata – entschuldigt sie sich mit diesem Comic jedenfalls nicht. Und so sind auch diese über 360 Seiten Autobiografie wieder voller Vitalität. Der Comic erzählt auf bewegende Art zugleich voller Energie, Selbstzweifel, Leidenschaft und Skepsis von einer langsamen Selbstfindung.
Zuerst erschienen in Strapazin Nr. 129