Groteske Politparabel:
„Hier selbst“ von Jacques Tardi

Der französische Comiczeichner Jacques Tardi hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend den Gräueln der Weltkriege gewidmet. Aber auch Romanadaptionen – gerne Krimis – gehören zu seinem Spätwerk. Mitunter arbeitet er aber auch exklusiv mit Autoren zusammen, um eine neue Geschichte zu erzählen. Ein frühes Beispiel für eine solche Zusammenarbeit ist „Hier selbst“ aus dem Jahr 1979, das zum 35-jährigen Jubiläums des Verlags Edition Moderne nach 27 (!) Jahren in einer zweiten Auflage erscheint und somit nun endlich wieder lieferbar ist. Es wurde Zeit: Das mit 200 Seiten opulente, großformatige Werk – ursprünglich in der Tradition des Fortsetzungsromans in einzelnen Kapiteln erschienen und ohne Gesamtkonzept genau so Kapitel für Kapitel entwickelt – besticht durch seine surreale Kapitalismuskritik von Jean-Claude Forest und Tardis wunderbar eigenwillige Schwarzweiss-Zeichnungen, die ihn schon hier unverwechselbar machen.

Absurder Humor entfaltet sich von selbst in dem grotesken Szenario um den ehemaligen Großgrundbesitzer Arthur Selbst: Ihm sind nur noch die Mauern zwischen den im Erbschaftsstreit entstandenen Kleinparzellen geblieben, auf denen er wohnt und zwischen den Toren, die er gegen Wegzoll öffnet, wandert. Seit Jahren führt er gegen seine Nachbarn einen Rechtsstreit, um den alten Familienbesitz wiederzuerlangen. Die Situation macht ihn nicht nur zum nerdigen Außenseiter, den alle Nachbarn hassen so wie er sie. Sie macht Arthur Selbst, dessen Leben jenseits dieser absurden Wohnsituation nichts kennt, auch ein wenig paranoid. Oder ist seine Angst berechtigt, und die Nachbarn wollen ihm tatsächlich an den Kragen? Alleine in Julie, der jüngst nach langer Abwesenheit zurückgekehrten Adoptivtochter eines der Nachbarn, entwickelt sich eine Freundschaft, die Dank der Direktheit der freizügigen Julie auch schnell eine erotische Komponente erhält. Dass die Landschaft wegen eines historischen Kuriosums aber politisch gar nicht zu Frankreich gehört, löst bei einer innenpolitischen Krise der Grande Nation noch mal ganz andere Konsequenzen von weitreichender Tragweite aus.

Tardis grobe Schwarzweiss-Zeichnungen tauchen den Leser in eine absurde Welt – vage angesiedelt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts inmitten politischer Ungewissheiten. Und so verdichtet sich die Geschichte zunehmend von einem tragikomischen Gedankenspiel zu einer politischen Parabel, die bis zum grotesken Finale die Handlungsfäden langsam aber sicher immer mehr festzuzurren, ohne beim Balanceakt zwischen Tragik und Komik abzustürzen.
Zuerst erschienen in Strapazin Nr. 126, März 2017