„Der Sohn“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne

Olivier arbeitet als Meister in einer Schreinerei für schwer erziehbare Jugendliche. Von seiner Frau lebt er getrennt, der gemeinsame Sohn wurde vor 5 Jahren bei einem Raubmord erwürgt. Dann komm Francis neu in die Werkstatt: er ist der Mörder von Oliviers Sohn!

Der Sohn.jpg

Der Plot von „Der Sohn“ klingt schwer nach Krimi. Tatsächlich sieht der Zuschauer aber eine merkwürdige Melange aus Suspense á la Hitchcock und einer schlichten Fernsehreportage. Das auseinander zu bröseln ist gar nicht so einfach: das simple Setting der Schreinerei und der Wohnung Oliviers, versetzt mit einigen Außenaufnahmen, liefert wahrlich keinen geeigneten Hintergrund für Psychospiele. Olivier, ein zunächst so unglaublich gewöhnlicher, fast langweiliger Mensch, auch nicht. Entscheidend ist hier wieder ein mal nicht das ‚was’, sondern das ‚wie’! Olivier Gourmet stattet die Figur Oliviers mit einer inneren Unruhe und einer äußeren Hast aus, die ihn zunehmend zum sichtbar Getriebenen macht. Verstehen kann man das erst mal nicht. Genau darum verunsichert es einen. Wenn man dann die Hintergründe erfährt, ängstigt es einen. Olivier Gourmet spielt vollkommen grandios – weniger als das Superlativ ist da nicht drin!
Die klaustrophobische, extrem aufdringliche Nähe der Kamera, die den Figuren regelrecht zu Leibe rückt, steigert diese (An-)Spannung ins unermessliche. Die Kamera beobachtet akribisch genau. Trotzdem bleibt fast alles im Offenen. Dies Paradox ist eine große, wohltuende Kunst! Was warum passiert bzw. warum die Personen handeln, wie sie handeln, könnte man wahrscheinlich auch kaum erklären, selbst wenn man wollte. Doch gerade dadurch, dass nur gezeigt wird, eröffnet der Film eine immens große Projektionsfläche für den Zuschauer. Die kann und soll er füllen. Und nicht nur er, denn selbst die Regisseure, die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne („Rosetta“) – lange Jahre waren sie Dokumentarfilmer – sind sich des Spektrums ihres Films anscheinend nicht ganz bewusst. Nach 11/2 Jahren Arbeit stellen sie in den Arbeitsnotizen fest:“ Der Film heißt „Der Sohn“. Er könnte auch heißen „Der Vater““.
(Bundesstart: 12.6.2003)

„City Of God“ von Fernando Meirelles

 City of God1.jpg

Lateinamerikanisches Kino ist wieder schwer im kommen – sowohl mit kleinen Filmen („Ein Glückstag“, „Historias Minimas“, „Japón“) als auch im ambitionierten Mainstream („Die Versuchung des Padre Amaro“). City of God gehört sicherlich in die zweite Kategorie, das Adjektiv vor Mainstream sollte man hier aber ganz groß schreiben!

„„City Of God“ von Fernando Meirelles“ weiterlesen

„After Life“ von KORE-EDA Hirokazu

Ein kleines Grüppchen wird in einem Gebäude empfangen und zu ihrem schönsten Erlebnis befragt. Die Personen sind gerade gestorben und sollen den Moment ihres Lebens aussuchen, den sie als einzige Erinnerung mit ins Jenseits nehmen.

After Life.jpg

Man merkt schon wenige Minuten nach beginn des Films, wie wörtlich man den Titel des zweiten Spielfilms von KORE-EDA Hirokazu nehmen muss: Alle Figuren des Films sind bereits tot! Die einen – in Beamtentätigkeit zwischen Leben und Tod beschäftigt – schon etwas länger, andere – für eine Woche in den bürokratischen Prozess des Übertritts ins Jenseits involviert – noch ganz frisch. Die Beamten mit Beraterfunktion helfen den Neuankömmlingen, sich innerhalb einer Woche in intensiven Gesprächen und in schwereren Fällen auch mittels Videoaufnahmen des jeweiligen Lebens für die wichtigste oder schönste Erinnerung zu entscheiden. Einige tun sich damit sehr leicht, andere können sich nicht erinnern, wieder andere können sich nicht entscheiden und ein Neuankömmling will sich nicht entscheiden.
Mit dieser sehr witzig klingenden Konstellation bietet uns KORE-EDA allerdings keine leichte Komödie, sondern ihm gelingt eine erstaunlich umfassende Reflexion über das Leben, die Erinnerung und die darin enthaltenen Verschiebungen zur Wirklichkeit (mit all den damit verbundenen Funktionen, die das Erinnern erfüllen kann). Das Geschehen in dem Amtsgebäude und dem umliegenden Garten zeigt KORE-EDA in ruhigen Bildern und einem diese Grundstimmung weitertragenden, fast zärtlichen Bemühen der Berater um die Neugestorbenen. Die ‚Sitzungen’ haben einen therapeutischen Charakter und führen dazu, dass sich die Menschen mit dem hinter ihnen liegenden Leben auf unterschiedlichste Art auseinandersetzen.
Am Ende der Woche sollen sich alle entscheiden, die gewählten Erinnerungen werden dann detailgenau Verfilmt und im eigenen Kinosaal vorgeführt – schließlich werden die Toten ins Jenseits entlassen. Mit dem Aspekt der abschließenden Verfilmung der Erinnerung der Gestorbenen liefert KORE-EDA schließlich auch noch eine Reflexion über das Kino, das ja immer auch Leben nachstellt – erfindet oder erinnert.
(Bundesstart: 10.4.03)

Zuerst erschienen in choices 04/03

„Das Weisse Rauschen“ von Hans Weingartner

Die Wirklichkeit des Wahns

Hans Weingartners Film ‚Das Weisse Rauschen’ beschreibt realistisch den Kampf eines Schizophrenen mit seiner Krankheit.

Das weisse Rauschen entsteht, wenn alle Information gleichwertig präsent ist, eine Selektion nicht stattfindet. Don DeLillo nannte schon 1984 einen Roman über eine private Apokalypse ‚White Noise’, jetzt verwendet Hans Weingartner diesen Begriff für seinen ersten abendfüllenden Film. Auch bei ihm geht es um den Zusammenbruch eines Menschen. Lukas (gespielt von Daniel Brühl) zieht zu Beginn des Studiums von der Provinz zu seiner Schwester Kati (Anabelle Lachatte) in die Großstadt. Durch das neue soziale Umfeld verunsichert, erkrankt er an einer vererbten Schizophrenie. Erste Überreaktionen steigern sich zu drastischen emotionalen Ausfällen und führen bei ihm schließlich zu einer ausgeprägten Paranoia mit Wahnvorstellungen: Lukas hört Stimmen – beschimpfende, befehlende, Verschwörungen suggerierende – die gleichermaßen auf ihn wie auf den Zuschauer ungeordnet und sich überlagernd einstürzen.

Hans Weingartner widmet sich mit Weisses Rauschen, seinem Abschlussfilm für die Kunsthochschule für Medien in Köln, einem häufig im Kino behandelten Thema. Dort sind psychisch Kranke jedoch in der Regel entweder Genie, Gewaltverbrecher oder einfach Gaglieferant. Weingartner interessieren solche plakativen Zuordnungen nicht. Weder thematisch noch ästhetisch lässt er sich auf die Klischees des ‚großen’ Kinos ein. Stattdessen erzählt er vom Ausbruch dieser ungewöhnlichen, leider aber gar nicht seltenen Krankheit in einem schlichten, dokumentarischen Stil. Der Film wurde ohne aufwändige Beleuchtung oder Tontechnik mit drei Handkameras auf DV (Digital Video) gedreht. Dadurch konnte man mit einem kleinen Stab von nur 7 Personen und ohne ein ausformuliertes Drehbuch viel Improvisieren und auf unerwartete Entwicklungen spontan reagieren. Zudem wurde in der Zeit der 6 wöchigen Dreharbeiten hauptsächlich in Weingartens eigener Wohnung gedreht, so dass allmählich Arbeit und Freizeit, Drehort und Wohnort, Film und Realität förmlich miteinander verschmolzen.

Die Ähnlichkeit zu den Produktionsprinzipien von Dogma-Filmen ist kein Zufall – Weingarten ist bekennender Dogma-Fan! Und das Manifest des Dänischen Regisseurs Lars von Trier (‚Idioten’!) offenbart auch bei Weingartens Film seine künstlerischen Qualitäten. Alleine die schlichte Entstehung der Aufnahmen bewirkt beim Zuschauer eine eindringliche Präsenz der Protagonisten und ihrer Konflikte. Daher kann Weingartner auf ‚handelsübliche’ Effekte bei der Darstellung von Psychose oder Drogenrausch (was hier einer der auslösenden Momente der Psychose von Lukas ist) wie Zeitlupe, Unschärfe oder den Einsatz von Farbfiltern verzichten und lässt stattdessen den Blick der Kamera durch größere Nähe und weniger Stabilität der Bilder noch aufdringlicher, fragender und gleichzeitig unsicherer werden. So erhalten die Szenen der psychotischen Schübe entsprechend der im Inneren des Protagonisten wütenden Paranoia etwas bedrohliches und klaustrophobisches. Genau wie Lukas Abgrenzungsvermögen nicht mehr funktioniert, die äußeren Reize auf ihn einstürzen, kann sich der Zuschauer von dem wirbeln der Bilder und Töne nicht mehr distanzieren.

Man merkt dem Film in jeder Sekunde an, dass der Regisseur sein Thema kennt. Und wirklich: Weingartner hat vor seinem Studium an der Kölner Medienhochschule Gehirnforschung studiert und sich und den Hauptdarsteller in langen Gesprächen mit einem von der Krankheit Betroffenen auf die Arbeit vorbereitet. Der Film meidet daher jede Beschönigung: Auch als die Diagnose vorliegt, reagiert Lukas’ Umfeld (nachvollziehbar) hilflos auf dessen ‚Verrücktheiten’. Schizophrenie ist eben kein cooler Trip einer künstlerisch veranlagten Person – auch wenn Lucas’ veränderte Wahrnehmung zu faszinierenden Handlungen (z. B. bei der Zimmergestaltung) führt und in großangelegten Verschwörungstheorien immer auch ein kreatives Potential liegt. Bunte Trickeffekte würden das Thema jedoch verfehlen.
Bundesstart: 31.1.2002

Zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung, NRW-Ausgabe

Oliver Husain & Michel Klökorn: Musikclips ffür Sensorama

Dokpop: Mit Sensorama-Videos den Alltag zum tanzen bringen

Oliver Husains und Michel Klökorns Arbeit als Videoclipregisseure ist wahrscheinlich den meisten durch ihr ausgezeichnetes Video zu ‚Star Escalator’ von Sensorama bekannt. Zuvor hatten sie bereits deren Track ‚Echtzeit’ verfilmt. Dass sie jetzt auch wieder ‚Where the white rabbits sleep’, die erste Singleauskopplung aus Sensoramas neuem Album ‚Projektor’, mit aufblasbaren Werbeobjekten verfilmen (bzw. Michel Klökorn diesmal zusammen mit Anna Berger) und auch die nächste Auskopplung bebildern werden, macht sie definitiv zu den Hofregisseuren der Frankfurter Musikproduzenten. Welche Parallelen man zwischen den einzelnen Clips ziehen kann, und was beim neuen Video doch anders war, verrieten sie im Interview mit De:Bug.

„Oliver Husain & Michel Klökorn: Musikclips ffür Sensorama“ weiterlesen

„Black Box BRD“ von Andres Veiel

Das derzeitige Interesse an ´68 und die Folgen reicht von hysterischer Abwehr bis zu naiver Affirmation. Der Dokumentarfilm Black Box BRD von Andres Veiel (‚Die Überlebenden’) positioniert sich in der Mitte dieser Pole, will es damit aber keinesfalls allen recht machen. Im Gegenteil: den meisten dürfte es eher unangenehm sein, wenn die Feindbilder – hier wie dort – nicht mehr klar umrissen sind.

Black Box BRD.jpg

Veiel nähert sich in seinem Film zwei ‚deutschen’ Biographien, die unterschiedlicher nicht sein könnten, mit Interviews, ‚Ortserkundungen’ und privatem Film- und Fotomaterial: Dialogisch wird der Lebensweg von Alfred Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, der 1989 bei einem Anschlag der RAF ums Leben kam, gegen die Entwicklung von Wolfgang Grams, jenem RAF-Mitglied der ‚dritten Generation’, das 1993 bei dem Versuch der Festnahme in Bad Kleinen durch einen aufgesetzten Kopfschuss ums Leben kam, gestellt. Nach einer deutlicheren Verbindung dieser beiden Menschen wird in dem Film nicht gesucht – überhaupt ist Enthüllungsjournalismus nicht Veiels Sache. Spekulationen über Grams’ Beteiligung am Herrhausen Attentat finden nicht statt – die schwarzen Löcher der Geschichte werden nicht mit harten Fakten gestopft.
Stattdessen kommt im Verlauf des Films zunehmend eine emotionale Ebene ins Spiel. Das geschieht offensichtlich auch in der öffentlichen Diskussion, allerdings mit ganz anderem Ergebnis: während dort Trotz und Rechthaberei regieren, scheinen im Film die hinter den Daten der Ereignisse stehenden Menschen auf. Das erklärt ihre Entwicklung, ohne dass die zweifelhaften Momente ihres Handelns unterschlagen werden. In Interviews mit Verwandten, Freunden und Bekannten tastet sich Veiel an eine Kartografie der Seelen zweier Menschen heran, die beide durch ihr konsequentes Handeln zunehmend in Isolation geraten. Dabei zeigt der Diplom-Psychologe außerordentliches Gespür für seine Gesprächspartner (sogar den medienverachtenden Helmut Kohl bringt er zum reden!).
Ebenso einfühlsam wie in den Interviews agiert Veiel als Regisseur in der Auswahl der Bilder: nicht nur im Gespräch entlockt er den Interviewpartnern interessante Aspekte einer emotional offensichtlich noch längst nicht verarbeiteten deutschen Geschichte, auch die Kamera ‚erzählt’ beim Abtasten der Personen und ihrer Umgebung Geschichten. Oft werden dadurch Äußerungen treffend unterstrichen, mitunter aber auch unterwandert. Das führt zu einer Spannung, die unkommentiert und unaufgelöst in das Denken des Zuschauers einfließt.
(Bundesstart: 31.5.01)

Zuerst erschienen in 05/01

VJ $ehvermögen

Bilder regeln das $ehvermögen

$ehvermögen rockt die Drum ‚n’ Bass-Crowd mit massiver Message

Text: Christian Meyer

Unterschiedliche Bilder wirken sich unterschiedlich auf die individuelle Entwicklung der visuellen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit aus. Das kann man sich wunderbar zunutzen machen, denn wenn bestimmte Bilder bestimmte Lebensaspekte dominieren, dann dominieren neben der spezifischen Ästhetik auch deren Aussagen, klar! Nur leider sitzen meist die falschen Leute an den richtigen Stellen, so dass der Bilder-Mainstream in der Regel von öden bis bösen Menschen bestimmt wird. In der Popkultur hingegen kann das schon mal besser laufen: für die Schnittmenge Westdeutschland und Drum ‚n’ Bass-Party gibt es z.B. auch solche dominierenden Bilder. Das stellt man schnell fest, wenn man sich in Köln und Umgebung, aber auch in Koblenz oder Stuttgart auf Drum ’n’ Bass-Parties herumtreibt:man sieht dort meistens Visuals von $ehvermögen – doch die sind weder öde noch böse!

„VJ $ehvermögen“ weiterlesen