Scott McCloud: Comics richtig lesen / Comics neu erfinden

Comic als elektronischer Lebensaspekt

Nach einer detaillierten, in Comicform ausgearbeiteten Theorie zum ästhetischen Phänomen Comic, veröffentlicht Scott McCloud nun in gleicher Form eine Analyse der ökonomischen Bedingungen des in der Krise steckenden Comicmarktes und formuliert zugleich die Möglichkeiten der sowohl ästhetischen als auch ökonomischen Neuerfindung des Comics in Zeiten von Computer und Internet.

1993 veröffentlichte der US-Amerikanische Comicautor Scott McCloud seinen vielumjubelten Comicband ‚Understanding Comics’ (die deutsche Übersetzung heißt leider besserwisserisch ‚Comics richtig lesen’). Neben der ungewöhnlichen Tatsache, dass dieser Theorie-Band in der Form des Gegenstandes der Analyse gestaltet war, nämlich als Comic, bestach das 220-Seiten dicke Buch vor allem dadurch, dass hier eine ernstzunehmende ästhetische Theorie (hauptsächlich semiotisch orientiert) in höchst kurzweiliger Form entwickelt wurde. Die Wahl der Form war aber mehr als nur ein Gag bzw. die naheliegendste Möglichkeit, das anvisierte Publikum zu erreichen, denn so konnten die visuellen Effekte, über die gesprochen wurde (und zwar mit Hilfe der Comicfigur Scott McCloud, die den Leser dozierend durch das Buch führt), auch gleich anschaulich vorgeführt werden. Sämtliche Koryphäen der Comic-Kunst, von Will Eisner bis Art Spiegelman überschlugen sich mit Lob. Im Folgenden Arbeitete McCloud an dem computergenerierten Album ‚The New Adventures Of Abraham Lincoln’, dass wenig Gnade bei der Kritik fand. Insofern kann die Rückkehr zu der Erfolgsformel von ‚Understanding Comics’ durchaus zwielichtig erscheinen (erst recht, da die Comicform diesmal nicht ganz so zwingend ist – allerdings spricht auch nichts dagegen). Aber man sollte sich doch anschauen, was ‚Reinventing Comics’, soeben in der deutschen Übersetzung unter dem Titel ‚Comics neu erfinden’ erschienen, inhaltlich zu bieten hat.

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Das Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten beschreibt McCloud 9 sogenannte Revolutionen, die die fetten Jahre Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre gebracht haben. Diese Zeit hat mit Akteuren wie Bill Sienkiewicz, Frank Miller, Alan Moore, Dave McKean u.a., häufig ausgehend von der Dekonstruktion des übermächtigen Superhelden-Genres, eine sowohl ästhetische als auch thematische Explosion auf dem Comicmarkt verursacht (bei dessen Beschreibung zeichnet sich recht deutlich McClouds amerikanische Sichtweise ab). Im Jahr 2001 gibt es daher immer noch eine große Anzahl thematisch interessanter und künstlerisch eigenständig formulierter Comics, die Marktsituation ist nach dem Ende der Aufbruchsstimmung aber ziemlich schlecht bis katastrophal. McCloud schreibt aus dieser Position, in der die künstlerische Blütezeit gerade zurückliegt, und man die Zukunft recht ernüchtert betrachtet.

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Im zweiten Teil fragt er daher nach den Möglichkeiten, die Errungenschaften der ‚Erwachsenwerdung’ der Comics halten und ausbauen zu können. Nach einleitenden Worten über Geschichte und Möglichkeiten von Computer und Internet, beschäftigt er sich mit den Fragen der digitalen Distribution, Produktion (auch ‚Comics neu erfinden’ ist am Computer entstanden!) und der komplett digitalen Comics, die nur im Netz existieren. Dieser zweite Teil ist kräftig von Pathos begleitet, denn McCloud sieht hier nicht nur die einzige Möglichkeit, den künstlerischen Comic finanziell überlebensfähig zu halten, sondern auch die Chance, vollkommen neue Wege sowohl in der Ästhetik der einzelnen Panels, als auch in deren Anordnung zu gehen. Dabei lässt er sich gar nicht einmal so sehr auf multimediale und interaktive Möglichkeiten ein, denn diese Felder möchte er Kunstgattungen überlassen, die dort wesentlich mehr leisten können. Er bezieht sich hier vielmehr auf ästhetische Möglichkeiten jenseits von perfekter Simulation: die Freiheit von Erzählstrukturen, wie sie durch die Loslösung vom bedruckten Papier entsteht. Diese Möglichkeiten beschreibt McCloud in ‚Comics neu erfinden’ eindrucksvoll und anschaulich. Ob man sich aber in Zukunft komplett von der herkömmlichen Form des Comics als Buch verabschieden soll und kann, darf trotz aller Euphorie McClouds bestritten werden.

Zuerst erschienen in De:Bug 01/02

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