Ich möchte eine Lanze für die Langen brechen: Einseitige Trackmonster im Krautrock sind doch cool. Und das ‚einseitig‘ möchte ich bitte im doppelten Wortsinn verstanden wissen. Sowohl als Kennzeichnung der Länge – eine LP-Seite -, als auch als Beschreibung des Minimalismus …
Zuletzt hat es mich in Hamburg mal wieder in Plattenläden verschlagen, Secondhand-Läden. Nach jüngster Lektüre von Büchern wie „Rip it up and start again“ von Simon Reynolds oder „Punk Rock“ von John Robb standen coole New Wave Platten ganz oben auf meiner Liste. Z.B. die EP „A taste of DNA“ der No New York Legende um Artho Lindsay: Sechs Stücke in 10 Minuten! Es kommt anders. Ich kaufe fünf Platten:
Cabaret Voltaire: Three Mantras (1980)
Tangerine Dream: Zeit (1972)
Klaus Schulze: Mirage (1978)
John Cale & Terry Riley: Church of Anthrax (1971)
Brian Eno: Before And After Science (1977)
Fast nur Platten, mit langen Stücken, die über die gesamte Seite eines Albums gehen. Die scheinbar einzige New Wave Platte ist „Three Mantras“ von den Sheffield-Elektronikern Cabaret Voltaire. Der Titel klingt allerdings eher nach Hippiemusik und die beiden Stücke der überlangen Maxi sind je 20 Minuten lang. Eines ist Electrofunk, wie man ihn erwartet, die andere Seite eine ambiente Soundcollage mit rückwärtslaufenden Bändern. Cabaret Voltaire haben 1974 mit elektronischen Soundscapes begonnen (u.a. zu hören auf der 3-CD Box „Methology – The Attic Tapes 1974-78“).
Das führt uns direkt zu „Zeit“ von Tangerine Dream. 1972 war deren Sound noch nicht von Kitsch durchtränkt. Das Doppelalbum ist ein Monolith mit vier einseitigen Stücken, die zum Teil aus weitgehend unstrukturierten elektronischen Geräuschen bestehen. Chöre sind ebenfalls zu hören und auch das Intro, ein Streichquartett, erinnert sehr an Neue Musik. Anheimelnd klingt das nie, sondern industriell wie die beiden ersten Cluster-Alben, also wie Ambient-Industrial. Und höchst depressiv, also wie New Wave-Elektronik.
Das trifft auch auf die ersten beiden Alben von Klaus Schulze zu, der zuvor noch auf dem ersten Tangerine Dream Album mitspielte, als die Band noch rockiger war. 1978 macht er „Mirage“ mit je einem Stück pro Albumseite und ist bei Minimal-Music angelangt. Allerdings nicht die akademische Variante, die man von Steve Riley, Philipp Glass oder Steve Reich kennt, sondern eine eiskalte elektronische Fortführung, die ein Blueprint für Minimaltechno ist.
Als John Cale 1971 nach dem Ende von The Velvet Underground zusammen mit Terry Riley für „Church of Anthrax“ – etwas kürzere Instrumentalstücke hier – auf seinen Minimal-Background zurückgreift, streicht er ebenfalls den akademischen Anteil und kreuzt die Struktur von Minimalmusic mit Rock, Funk, Blues, gar Dixieland und anderen entfernten Musikstilen.
Brian Eno war für viele Punk- und Post-Punk-Protagonisten durch seinen Einfluss bei Roxy Music und spannende Sound-Versuche eine der wenigen akzeptierten Figuren im Musikbusiness. Ein Stück wie „The fat lady of Limbourg“ von dem Album „Taking Tiger Mountain“ ist absoluter Proto-New Wave – und von 1974! Er sollte später etliche wegweisende New Wave Platten produzieren, darunter welche von Devo, Talking Heads und die genredefinierende No New York-Compilation. 1977 macht er „Before and after Science“, ein Album das soundreich zwischen before and after Punk vermittelt. 1978 begründete er mit dem Album „Ambient 1: Music for Airports“ das Genre Ambient. Das wiederum stützte sich auf Krautrock und spielte später für Techno eine bedeutende Rolle.
Interessant, wie so unterschiedliche Platten – relativ zufällig an einem Tag in unterschiedlichen Läden erstanden – miteinander korrespondieren, sich Jahreszahlen und Einflüsse quer durch Genres und Protagonisten kreuzen.
Das nächste Mal: Sind die Eagles näher an den Melvins als James Last an The Smith?
Die genannten Platten sind alle als CDs, teilweise mit Bonustracks, erhältlich
(Cabaret Voltaire bei Mute, Klaus Schulze bei SPV, Tangerin Dream bei Sanctuary, Brian Eno bei EG, John Cale & Terry Riley bei Sony).
Fieser Hippie!
Immerhin depressiver New Wave-Hippie!