„Jesus, Du weisst“ von Ulrich Seidl

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Sechs Menschen, in der Kirche beim Beten und Beichten beobachtet von einer neutralen Kamera: ein mit seinen Fantasien kämpfender Student, eine betrogene Ehefrau, ein verlassender Mann, eine Frau eines Schwerkranken und ein Paar in Beziehungsproblemen. Ulrich Seidl zeigt Glaube in eindringlicher Nahaufnahme …

Der neue österreichische Minimalismus ist von einer schweren, formalen Strenge. Ulrich Seidl, in Deutschland vor allem bekannt geworden durch „Hundstage“, setzt mit „Jesus, Du weisst“ diesbezüglich neue Maßstäbe: in langen, statischen und peinlich genau symmetrisch angeordneten Einstellungen beobachtet Seidl sechs Personen in Frontalansicht bei ihren Gebeten und Beichten in der Kirche. Auflockerung gibt es durch wenige, nach demselben Prinzip arrangierte Chorszenen. Das Szenarium birgt zunächst ein komisches Moment. Die Gewissheit und Klarheit, mit der diese Menschen Jesus ansprechen, ihm etwas erzählen oder ihn befragen und ihn dabei immer wieder mit seinem Namen anreden („Jesus, Du weißt …“), hat etwas Irritierendes, da sie ja ebenso mit der Kamera bzw. dem Kinopublikum als Gegenüber reden. Wenn dann die Betenden von Mordgelüsten, Sexfantasien beim Bibellesen oder der Schwäche, Talkshows zu sehen, berichten, kann man sich manchmal ein Lächeln nicht verkneifen. Aber Seidls Film gewinnt mit jeder Filmminute an Eindringlichkeit. Denn die vorgetragenen Probleme und Selbstzweifel können einen nicht kalt lassen. Vor allem die Freimütigkeit der Berichte geht oft an die Grenze des Erträglichen. Und man fragt sich, warum diese Menschen so vorbehaltlos in die Kamera sprechen. Und man fragt sich auch, warum diese Menschen vor einer Kamera beten. Und man beginnt unwillkürlich, an der Authentizität des Gezeigten zu zweifeln. Es gibt tatsächlich mehrere Anhaltspunkte, die diese Skepsis schüren. Doch tatsächlich spielt das wie immer gar keine Rolle. Eine Inszenierung ist Film per se.
Ulrich Seidl „wollte nicht die Heuchelei oder Erstarrtheit, das Zeremonielle, Bigotte, autoritär Konservative oder den Kitsch an der katholischen Kirche zeigen“, wie er selbst bekundet. Obwohl seine Aussage den Hass auf die kirchliche Institution mehr als deutlich widerspiegelt, glaubt man es ihm: Wir sehen den einzelnen Gläubigen. Die Spuren der mächtigen Institution sind dennoch, nicht nur durch die Kirchenbauten, zu spüren: in den Selbstzweifeln, Schuldgefühlen, der Furcht. Aber am Ende sehen wir wieder den Hoffnung spendenden Chor.
(Bundestart: 25.8.2005)

Zuerst erschienen in choices 8/05

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