Einmal mehr erzählt Atom Egoyan mit seinem neuesten Film „Simons Geheimnis“ eine verschachtelte Geschichte, in der sich Schein und Sein nicht immer klar voneinander trennen lassen …In Simons Klasse wird eine Zeitungsnotiz diktiert: Ein arabischer Mann hat seine schwangere Frau für einen Flug nach Israel ohne ihr Wissen mit einer Bombe ausgestattet. An der Sicherheitskontrolle wurde die Bombe entdeckt. Im Folgenden behauptet Simon, dessen Eltern tot sind, dass dies die Geschichte seiner Eltern ist. Die Geschichte zieht schnell Kreise und wird weniger auf dem Schulhof, sondern ganz modern – eifrig in Internetforen diskutiert. In Videokonferenzen gibt es jene, die diese Tat religiöser Intoleranz heftig verurteilen und jene, die für ein solches Opfer für ein höheres Ziel Verständnis aufbringen können. Auch melden sich die beinahe Opfer dieser vereitelten Katastrophe zu Wort. Parallel dazu kommt Simon der Geschichte seiner Eltern näher. Auch hier spielt religiöse und kulturelle Intoleranz eine Rolle. Allerdings ganz anders als in der Zeitungsnotiz. Simons Onkel und sein Großvater sind der Schlüssel zu der Geschichte.
Dekonstruktionen der Wahrheiten
Der Regisseur mit dem ungewöhnlichen Vornamen (seine Eltern haben ihn tatsächlich anlässlich des Baus des ersten Atomreaktors in Ägypten so genannt) kam als Sohn armenischer Eltern in Kairo zur Welt. Als er drei Jahre alt war, zogen die Eltern nach Kanada. Es ist von Vorteil, diese multikulturellen Grunderfahrung Egoyans zu kennen, um seine Filme zu verstehen. Der Relativismus und die Dialektik seiner Filme gründet sich in der Erfahrung, dass auch vermeintlich unwiderrufliche Gewissheiten meist Konstruktionen sind. Identität ist eine davon, Wahrheit eine andere – beide werden mannigfaltig und immer wieder in den Filmen von Atom Egoyan hinterfragt. Dafür entspannt Egoyan ein komplexes Erzähllabyrinth, das den Zuschauer regelrecht erfahren lässt, wie es sich anfühlt, wenn solche Hilfskonstruktionen für eine stabile Welterfahrung wegbrechen. Seine Geschichten spaltet er häufig in verschiedene Perspektiven und zerlegt sie in unterschiedliche Zeitachsen. Das klingt strategisch und kühl, und die Filme strahlen wirklich eine unterkühlte Stimmung aus. Tatsächlich geht es Egoyan aber um das Gegenteil – die Wärme wiederzugewinnen. Seine Protagonisten sind gezeichnet von Verlust. Entweder dem Verlust von Menschen oder von Dingen. „Der Schätzer“ von 1991 erzählt von Menschen, deren Haus niedergebrannt ist – ein traumatisches, beinahe die Identität zerstörendes Erlebnis, weil jegliches Erinnerungsmaterial verloren gegangen ist. Der Schätzer, ein Versicherungsvertreter, muss den finanziellen Wert eruieren. Er gibt den Betroffenen aber vor allem fürsorgliche Unterstützung. In Egoyans oscarnominiertem Meisterwerk „Das süße Jenseits“ von 1997 ist es ein kaum noch fassbarer Verlust: Die Kinder eines ganzen Dorfes kommen bei einem Unglück ums Leben. Ein Anwalt will den Familien bei der Durchsetzung der finanziellen Ansprüche helfen. Doch die Eltern merken, dass Trauer und Erinnerung viel heilsamer sind gegen den grenzenlosen Schmerz. In „Ararat“ von 2002 geht es schließlich um den Verlust eines ganzen Volkes und den Versuch, sich sowohl an die grauenvollen Ereignisse als auch an das Volk zu erinnern. Egoyan thematisiert den auch ihn betreffenden Genozid der Türken an den Armeniern im Jahr 1915. Wie in seinen frühen Filmen aus den 80er Jahren spielt hier Technik als Kommunikationsform – Video, Film, Telefon – eine große therapeutische Rolle. Den armenischen Opfern soll durch eine Verfilmung der Ereignisse gedacht werden, und Egoyan entfaltet ein komplexes Film-im-Film-Geflecht. In „Simons Geheimnis“ schließlich geht es darum, sich an die verstorbenen Eltern zu erinnern. Auch hier erzählt der Regisseur in verschiedenen Zeitebenen und thematisiert nebenbei die sich wandelnden Kommunikationsformen. Die Diskussionen finden im Internet statt, Simons Großvater spricht seine Version vom Tod der Eltern auf dem Sterbebett in Simons Fotohandy.
Leben; Zusammenleben
Der Grundton ist wie bei allen Filmen Atom Egoyans kühl. Sehnsucht und unverarbeitete Trauer sind die unterschwelligen Gefühle, die die Menschen – nicht nur Simon – umtreiben. Trotzdem ist „Simons Geheimnis“ weniger kühl als vorherige Filme. Alleine die Szenen der Videochats, wenn in den Internetforen über Simons Geschichte diskutiert wird, stehen mit ihrem demokratischen Stimmengewirr in ihrer Lebhaftigkeit in starkem Kontrast zu entsprechenden Szenen früherer Filme. Unter der zweigleisigen Struktur des Films – hier Simons Familiengeschichte, dort das Thema religiöser Intoleranz – leidet die empathische Kraft von Simons Geschichte, bevor dann beide Stränge doch noch zusammenführen. Aber um Empathie wird es Egoyan wohl auch dieses Mal nicht gegangen sein. Dafür sind seine Filme viel zu sehr an ganz grundlegenden Themen des menschlichen Lebens – des Zusammenlebens – interessiert. Egoyans stetiges Ringen mit den Begriffen Identität und Wahrheit ist auch in seinem neuen Werk Thema. Liebe, Begierde und Sehnsucht sind die emotionalen Motoren seiner Erkundungen.
(Bundesstart: 21.5.2009)
Zuerst erschienen in choices 05.09


