„Vier Fenster“ von Christian Moris Müller (Interview)

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Fröhliche Depression

Sie hängen eng aufeinander: Der adoleszente Sohn wohnt noch bei den Eltern, die ältere Tochter über ihnen im selben Hochhaus. Doch die Probleme in der Familie sind trotz der Nähe offensichtlich. Für seinen zweiten Film konnte Christian Moris Müller den renommierten Kameramann Jürgen Jürges gewinnen. Der prägt den Film um die unterschwelligen Aggressionen in einer scheinbar intakten Familie mit seinen langen Plansequenzen dann auch erheblich. Der Film beobachtet separat die vier Familienmitglieder während eines Tages. In scheinbar beliebigen Alltagsszenen sehen wir die vier einzeln oder in Interaktion mit den anderen Familienmitgliedern. So ergibt sich langsam ein Gesamtbild einer Familie und der Beziehung der einzelnen Personen zu einander mit all den daraus resultierenden Abhängigkeiten. Ein ungewöhnlicher und genauer Blick auf den angeblichen Kern unserer Gesellschaft.

INTERVIEW

Die vier Figuren des Films lernt man über lange, kaum herkömmlich storyorientierte, lange Einstellungen kennen. Warum bevorzugst Du dieses raumgreifende Beobachten von Bewegung im Verhältnis zu einer Orientierung an verbaler Kommunikation? 

Ich wollte zwischen den Zeilen erzählen. Personen die reagieren waren mir wichtiger als Leute, die agieren. In den zuhörenden Gesichtern ist häufig mehr zu lesen als in denen, die reden. Das hat mit unserem Verhalten als Mensch zu tun. In dem Moment, in dem wir sprechen, nehmen wir eine bestimmte Haltung ein und fangen an, eine Rolle zu spielen. Die direkte Reaktion darauf ist unmittelbarer oder wahrhaftiger. Es gibt keine Menschen, die ihre Befindlichkeiten immer sofort artikulieren. Die Wahrheit liegt im Schweigen. „Vier Fenster“ ist da, wo die meisten Fernsehfilme wegschneiden. So entsteht eine Intimität zwischen Figur und Zuschauer, die auch irritierend sein kann.

Die Eltern sind ganz klar die tragischen Figuren in diesem Quartett, aber auch die Kinder stecken schon tief in Frustration und Abhängigkeit. Beide kompensieren das über einen fordernden Masochismus. Trotz der masochistischen Züge: Dieses selbstbewusste Fordern – vor allem beim Jungen – ist auch als Kraft zu verstehen …

Der Widerspruch in dem Wortspiel ‚fordernder Masochismus’ trifft auch den Widerspruch in so manchem Gefühlserleben. Das Gegenüber in die Rolle des Täters zu drängen erfordert viel Kraft. Wer da am Ende das Opfer ist, wird im Grunde noch verhandelt. Ich denke, das was du als Masochismus bezeichnest, steht eigentlich für die Sehnsucht des Jungen, sich Hinzugeben. Die Voraussetzung für Hingabe ist Vertrauen. Er versucht sich in Hingabe bei einem Fremden, weil ihm dort ein möglicher Vertrauensbruch weniger bedrohlich erscheint als bei Jemandem dem er sich näher fühlt. Obwohl er scheitert, geht er immer wieder das Risiko ein verletzt zu werden. Das ist seine Stärke.

Das interessante ist unter anderem, dass der Film nicht auf ein dramatisches Ereignis zuläuft. War die Versuchung dennoch groß, mit einem Knall zu enden?

„Vier Fenster“ setzt auf die Dramaturgie des individuellen Erlebens des Betrachters. Die Situation spitzt sich auf emotionale Weise zu. Die Figuren und ihre Beziehungen werden immer deutlicher während die reine Erzählhandlung zurück tritt. Es war mir wichtig, dass der Zuschauer am Ende Fragen mit aus dem Kinosaal nimmt, Fragen an sein eigenes Leben. Filme zu sehen, die sich der Abgeschlossenheit verweigern, erinnern mich an die offene Dynamik des eigenen Lebens. Das finde ich tröstlich. Da sitze ich im Kino und fühle mich für einen Moment weniger einsam.
(Bundesstart: 19.4.2007)

Zuerst erschienen in choices 6/07