Mit seinen 450 Seiten ist das Monströse Werk nicht nur mit Abstand die bis dato dickste deutschsprachige Graphic Novel, es ist wohl auch die gelungenste … Die autobiographische Geschichte erzählt von der damals 17jährigen Autorin, die Mitte der 80er Jahre als Punk in Wien lebt. Als sie Edi trifft, beschließen die beiden noch minderjährigen Mädchen, ohne Gepäck und Geld nach Italien zu trampen. In Rom treffen sie auf Gleichgesinnte, und das Leben in der neu gewonnenen Freiheit macht zunächst noch Spaß. Als die kalte Jahreszeit näher rückt, planen sie zusammen mit dem Junkie Andreas weiter nach Süden zu ziehen. Aber bereits in Neapel verliert Ulli ihre Weggefährten. Sie reist alleine nach Palermo, in der Hoffnung, dort ihre Freunde wiederzutreffen. In Palermo findet sie sich in einem komplett anderen Kulturkreis wieder. Dem dortigen Machoismus ist sie unvorbereitet ausgeliefert. Edi, die sie später hier wieder trifft, ordnet sich dem Wertesystem unter, Ulli muss einen anderen Weg finden, um dort ohne Geld und echte Freunde zu überleben.
In einem Video erzählt Lust, wie schwer ihr es fiel, die Erlebnisse zu veröffentlichen. Lust erfährt in Italien nicht nur Hunger, Angst vor der Polizei und aufdringliche Typen, sie schwebt mehrmals in großer Gefahr und wird schließlich in Palermo vergewaltigt. Zu Beginn ihrer Reise sucht sie die Freiheit, in Palermo merkt sie, dass sie als Frau in dieser Machogesellschaft vogelfrei ist. Es ist ein spannender Zufall, dass exakt zur selben Zeit von Lusts Reise Agnès Varda in Südfrankreich ihr Außsteigerporträt „Vogelfrei“ dreht. Die Hauptfigur ähnelt der 17jährigen Ulli sehr.
Während die Alltagssituationen an Hand von Tagebüchern genau und realistisch wiedergegeben sind, ändert sich der Erzählstil in den bedrohlichen Momenten der Reise. Das Gefühl der Unsicherheit äußert sich in einer Verschiebung der Perspektive – wir sehen nur noch den Boden und Ullis Fußspitzen. Ein anderes Mal führt ihr Wunsch, unsichtbar zu sein dazu, dass sie aus den Zeichnungen verschwindet. Die Vergewaltigung schließlich ist wie eine Attacke eines wilden Tiers dargestellt. Lusts Wechsel zwischen Realismus und surrealen Momenten ist so gleitend, wie ihre Einschätzung der Gefahr: Im einen Moment fühlt sie sich sicher, dann redet sie sich die Harmlosigkeit der Situation nur noch ein, bis auch dies nicht mehr gelingen will und sie merkt, dass sie in dieser von Männern beherrschten Welt als Freiwild gilt. Lusts Wahrnehmung wird zur Wahrnehmung des Lesers und am Ende teilt man uneingeschränkt ihren Wunsch: Bloß weg hier!
(avant-verlag)
Zuerst erschienen in Strapazin Nr. 98