„Lucy“ von Henner Winkler

Maggy ist gerade mal 18 Jahre alt und bereits Mutter der kleinen Lucy. Zusammen wohnen sie bei Maggys ebenfalls noch junger Mutter. Als Maggy Gordon kennen lernt, ziehen sie zusammen. Aber der Alltag holt sie schnell ein.

Am Anfang ist es noch ungewiss: Maggy sitzt vor dem Fernseher und telefoniert mit einer Freundin. Sie kann nicht mit in den Club kommen, denn sie hat die kleine Lucy zur Beaufsichtigung. Ob Lucy ihre Schwester oder ihre Tochter ist, wird zunächst nicht klar, und auch als sie ihren neuen Freund Gordon mit nach Hause bringt, muss der erst erraten, wie die Verhältnisse hier liegen. Es ist nicht nur Maggys Angst, den neuen Freund mit dieser Tatsache sofort in die Flucht zu schlagen, es ist auch die Gefühlslage des jungen Mädchens, die zwischen ihrem Dasein als Mutter und ihrem eigenen Kindsein hin und her geworfen ist, die hier zum Ausdruck kommt.

Henner Winckler gehört zu der Generation junger deutscher Regisseure, denen es eindrucksvoll gelingt, mit einem minimalistischen Erzählstil realistische und glaubwürdige Geschichten aus der Lebenswirklichkeit zu erzählen. Neben Christoph Hochhäusler („Falscher Bekenner“), Valeska Grisebach („Sehnsucht“) oder Maren Ade („Der Wald vor lauter Bäumen“) stellt er eine erstaunliche Nähe zu den Figuren her, die weder durch gestelzte Dialoge und lehrbuchartige Dramaturgie noch durch übertriebene Schauspielerei oder eine exponierte Filmästhetik gebrochen wird. Auch Filmmusik findet man in diesen Filmen nicht. Das ist zwar kein Dogma, denn Dogmen scheint es in diesen Filmen nicht zu geben. Allerdings kann man neben dem frühen Fassbinder einen großen Einfluss der dänischen Kinorevolte spüren.

Der Realismus in „Lucy“ ist, vor allem dank der guten Dialoge (und Nicht-Dialoge) und der großartigen Darsteller, so erstaunlich, dass man sich mitunter verschämt wegdrehen will, weil man meint, die Intimitäten der Figuren gingen einen nichts an. Doch auch vor Peinlichem, das letzte Refugium der Authentizität, wie Hochhäusler zuletzt in choices bemerkte, macht die Kamera nicht halt. Wirkliche Dramen ereignen sich jedoch nicht. Man erwartet das, wenn Gordon seine Aufsichtspflicht verletzt, oder Maggy mal eben Bier holen geht und Lucy alleine lässt. Aber das Drama rollt nicht an wie ein Monstertruck. Das Drama ist das Leben. Ein Fünkchen Hoffnung gibt es dennoch.

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INTERVIEW MIT HENNER WINCKLER:
„Lucy“ vermittelt den Eindruck größter Wirklichkeitsnähe. Die Blicke, die Worte, die Körperhaltung der Figuren – all das ist absolut glaubwürdig.
Was ist das Geheimnis dieses Realismus und dieser Nähe zu den Figuren?

Mich interessieren Figuren, denen ich glaube und deshalb achte ich auch schon beim Casting darauf, dass ich Schauspieler oder Laien nehme, die durch das Anschalten der Kamera nicht plötzlich glauben spielen zu müssen, sondern die ihre Selbstverständlichkeit behalten.

Wie entstehen die Dialoge, die so ungeschliffen und realistisch wirken? Wie viel davon ist improvisiert?

Bevor wir anfangen zu Proben, gibt es ein Dialogbuch, das aber immer, auch während des Drehs, überarbeitet wird. Wenn Dialoge falsch klingen, verändern wir gemeinsam. Das heißt, ich frage die Schauspieler, wie sie es sagen würden, bespreche das aber auch mit meinem Ko-Autoren Stefan Kriekhaus und verändere dann den Dialog, bis ich das Gefühl habe, dass er stimmt. Direkt vor der Kamera improvisiert ist dann eher wenig, das kommt aber auch vor.

Nach herkömmlichen Kriterien passiert im Film nicht wirklich viel. Trotzdem ist da ein Moment ständiger Anspannung, man erahnt die herannahende Katastrophe – die sich aber nie einstellt. Ist dies ein bewusstes Spiel mit der Erwartungshaltung, oder entsteht dieser Effekt automatisch aus dem Sehverhalten der Zuschauer heraus?

Durch die Medien haben wir bei diesem Thema natürlich eine Menge Klischees im Kopf und erwarten ständig die Katastrophe. Andererseits gibt es im Film auch Bilder, die die Spannung erhöhen sollen. Dadurch geht die Erwartungshaltung in eine Richtung, die bewusst so nicht erfüllt wird.

Zur Zeit erscheinen einige Filme jüngerer Regisseure, die mit 30 bis 35 Jahren ihren ersten Kinofilm realisieren, sich aber mit Figuren um die 20 beschäftigen. Wie kommt dieses Interesse an diesem Lebensabschnitt bei Dir zustande?

Erstens passiert in diesem Alter sehr viel oder man hat subjektiv zumindest den Eindruck. Man sucht sich selbst, einen Beruf, einen Freund, eine Freundin etc. Im Fall von Maggy würde man für die gleiche Geschichte, die man hier in einem Zeitraum von ca. einem Monat erzählt, mindestens ein Jahr vergehen lassen, um glaubwürdig zu bleiben. Zweitens ist es ein Alter, in dem es noch starke äußere Widerstände wie Eltern, Schule etc. gibt und man nicht wirklich frei ist. Das macht das Erzählen natürlich dramatischer. Drittens hat man die Zeit selbst erlebt und gleichzeitig genug Abstand, um darüber erzählen zu können.

Warum heißt der Film „Lucy“, und nicht „Maggy“?

Maggy ist zwar die Hauptfigur, aber nur durch Lucy unterscheidet sie sich von ihren Klassenkameraden. Lucy ist der Auslöser und macht das, was passiert, zu einer Geschichte. Um das deutlich zu machen, habe ich den Film nach ihr benannt.
(Bundesstart: 29.6.2006)

Zuerst erschienen in choices 08/06